12

 

Auch im Ruhezustand waren Raphaels hängende Körperteile ein eindrucksvoller Anblick. Ich staunte erneut darüber, dass er tatsächlich in mich hineingepasst hatte, aber da es nun mal so war und wir den Anpassungsprozess alle beide ausgesprochen genossen hatten, würde ich mich ganz bestimmt nicht beschweren. Ich blickte auf, um zu sehen, ob ich ihn aufgeweckt hatte, während ich mich auf dem Bett ein Stück nach unten bewegte, aber er lag nach wie vor auf dem Rücken über das ganze Bett ausgebreitet; der eine Arm lag angewinkelt über seinem Kopf, der andere in Richtung Wand ausgestreckt. Seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Das Tattoo auf seinem Bauch rief mir in Erinnerung, dass dieser Mann, der mein Herz erobert hatte, verborgene Tiefen besaß.

„Dein Besitzer schnarcht vielleicht nicht, aber dafür macht er sich ganz schön breit“, erzählte ich seinem Penis, während ich mit den Fingerspitzen über seine ganze weiche, samtige Länge strich. Ich verbrachte meine Nächte nicht oft mit einem Mann, aber die wenigen Male, die es dazu gekommen war, hatte ich nicht mehr oder weniger unter meinem Bettpartner eingequetscht schlafen müssen, während sein Arm und sein Bein mich festhielten und mit seiner Wärme umschlossen. „Es ist ja keine schlechte Art zu schlafen, ganz bestimmt nicht“, fügte ich hinzu, fest entschlossen, fair zu bleiben. „Ich habe mich auf jeden Fall sehr sicher gefühlt, beschützt vor Plünderern oder Wölfen oder so.

Trotzdem muss ich sagen, dass er sich wirklich verdammt breitmacht. Andererseits gibt es nun mal so schrecklich viel von ihm, also sollte das keine Überraschung sein, schätze ich.“

Ich tätschelte Mr Happy noch einmal und schob ihn dann etwas zur Seite um die lange Linie von Raphaels Beinen zu bewundern. Ich streichelte über den ausgeprägten Oberschenkelmuskel. Seine Haut fühlte sich wie allerweichster, über Stahl gezogener Samt an. Ich beugte mich vor, um von ihm zu kosten, bedeckte die Innenseite seines Schenkels mit einer ganzen Reihe keuscher Küsse und hörte erst auf, als er etwas vor sich hin murmelte und sein Bein bewegte.

„Von wegen“, flüsterte ich, als er damit meinen Arbeitsbereich verkleinerte.

Ich brachte sein Bein behutsam zurück in die Lage, in der ich es haben wollte; dann kletterte ich über ihn hinweg, bis ich zwischen seinen Schenkeln auf dem Bauch lag und meine Beine über meinem Po in der Luft auf und nieder schwangen, während ich die Aussicht genoss. „Schenkel Nummer eins und Schenkel Nummer zwei oder Big Jim und die Zwillinge? Ha! Das klingt wie eine nicht jugendfreie Version von Dr. Seuss.“

Ich entschied, dass das, was bei mir funktioniert hatte, vermutlich auch bei ihm funktionieren würde, also presste ich meinen Mund gegen die samtene Wärme seiner Schenkel und küsste und knabberte mich so lange sein Bein empor, bis ich in eine Sackgasse geriet. Raphael bewegte sich und murmelte wieder irgendetwas im Schlaf, aber ich sorgte dafür, dass seine Beine da blieben, wo ich sie haben wollte, und lächelte in niederträchtiger Absicht das vor mir liegende Objekt an. Ich rutschte nach vorne, bis ich vor ihm kniete.

Mit meinen Händen strich ich über seine Beine nach oben, lehnte mich nach vorne und gab ihm einen kleinen Stups, damit er aufwachte.

Das tat er. Und zwar alles an ihm.

„Oh Baby, ich dachte, ich träume“, stöhnte er. Die Muskeln in seinen Beinen spannten sich an, als ich mit meiner Zunge über die sensible Unterseite seines nun nicht mehr länger hängenden Körperteils fuhr. Er hob den Kopf, um mir dabei zuzusehen, wie ich mich über ihm auf und ab bewegte und dabei so stark an ihm saugte, wie er meiner Vermutung nach gerade noch ertragen könnte. „Es ist wahr, ich träume tatsächlich“, krächzte er. Dann verdrehte er die Augen und sein Unterleib bäumte sich auf.

„Du bist nicht der Einzige, der darin gut ist“, verkündete ich mit einiger Selbstgefälligkeit in der Stimme.

„Neinnnnn!“, stimmte er zu. Sein Körper war von einer dünnen Schweißschicht überzogen, als ich alles daransetzte, ihn seine Kontrolle verlieren zu lassen.

Etwas später erklärte ich ihm, wie wichtig es mir war, einen Job richtig zu machen.

„Das kann man wohl sagen“, sagte er von seinem Platz auf dem Fußboden aus, wo er inmitten eines Durcheinanders aus Decken lag und keuchend nach Luft rang.

Ich legte mich auf den Bauch und blickte über den Bettrand hinweg auf ihn hinunter. „Wie kommt es, dass du da unten gelandet bist, wo ich doch hier oben liege? Haben wir nicht beide am selben Platz angefangen?“

„Zauberei“, stieß er schnaufend hervor. Er wurde immer noch von kleineren Nachbeben erschüttert.

Ich lächelte und hätte gerne noch eine Bemerkung zu der Zauberei hinzugefügt, die er bei mir angewandt hatte, aber in diesem Moment fiel mein Blick auf den Wecker, der neben ihm auf dem Boden lag.

„Mist! Ich muss jetzt los. Ich habe Roxy versprochen, zusammen mit ihr zu frühstücken, und dann wollten wir ein Volkskundemuseum besichtigen, das uns irgendjemand empfohlen hat, und danach sind wir mit Christian verabredet, der uns seinen Kerker zeigen will.“

Raphael hörte sich alles mit geschlossenen Augen an, bis auf den letzten Teil.

Mit einem Schlag riss er sie auf und sein bernsteinfarbener Blick bohrte sich in mich. „Allein?“

Ich lächelte, als ich vorsichtig über ihn hinwegstieg, um meine Kleider zusammenzusuchen. Ich war schon immer der Meinung, dass einem Mann ein kleines bisschen Eifersucht gar nicht schlecht stand.

„Roxy ist auch dabei, als hör damit auf, mich so anzusehen, als ob du gleich etwas Dummes machst, wie zum Beispiel mir verbieten hinzugehen. Denn das würde dir überhaupt nichts nützen und wir würden uns bloß streiten und dann müssten wir uns mit noch mehr wildem, ungezähmtem Sex wieder versöhnen. Und wenn wir das tun, verpasse ich das Museum. Also schlaf einfach wieder ein und ruh dich schön aus für später.“

„Später?“ Er zog fragend die Augenbrauen zusammen.

Meine Antwort fiel leicht gedämpft aus, da ich mir gerade mein Kleid über den Kopf zog. „Ich dachte, wir könnten uns in der Schänke treffen, bevor du zur Arbeit musst und Roxy und ich Christian zur Kerkerbesichtigung treffen.“

„Was spricht denn dagegen, dass wir uns hier treffen?“, fragte er, immer noch mit gerunzelter Stirn.

Ich schlüpfte in meine Schuhe, machte einen Schritt über ihn hinweg und setzte mich auf seinen Bauch.

„Sieh dich doch mal an, du bist so ausgetrocknet wie ein alter Putzlumpen.“

Ich fuhr mit meinen Fingern über die bebenden Muskeln seiner Brust, lehnte mich vor, um die Spitze einer vorwitzigen Brustwarze zu necken. Seine Hände, die meinen Rock hochschoben, waren warm.

„Wenn du vorhast, die Liebe meines Lebens zu werden, dann kannst du dir keine Schwächen erlauben. Wir werden dich am besten Schritt für Schritt an ein volles Programm Sex ohne Ende heranführen. Heute schläfst du dich aus, heute Abend zeigst du dich mit mir in der Öffentlichkeit und später dann, wenn der Markt geschlossen ist ... „

Ich schenkte ihm mein allerschönstes anzügliches Grinsen.

Seine Hände gruben sich in meine Oberschenkel, als ich mich über ihn beugte und küsste. Er schmeckte nach befriedigtem Mann - warm und glücklich und unendlich köstlich.

„Meinst du wirklich?“, fragte er. Seine Hände lösten sich von meinen Beinen und legten sich um meine Taille. Dann zog er mich auf seine Brust herunter, um unseren Kuss zu vertiefen. Seine Zunge spielte mit meiner und sie tanzten einen verführerischen Tanz, der mich wünschen ließ, wir könnten auf der Stelle noch einmal alles wiederholen, was wir in den letzten Stunden getrieben hatten.

„Junge, Junge, du verstehst dich aber auf Abschiedsküsse“, murmelte ich und strich mit meinen Fingern durch sein Haar. „Was bist du nur?“

Mit dem Blick, den er mir zuwarf, hätte man glatt jeden Tresor aufschweißen können. „Die Liebe deines Lebens.“

Ich schmiegte mich an ihn und gab ihm einen Kuss, der alles sagte. Nur für den Fall, dass er es nicht tat, fügte ich hinzu: „Ja, ich glaube wirklich und wahrhaftig, du bist es.“

Als er mich losließ, stahl sich ein Ausdruck süffisanter Selbstgefälligkeit auf sein Gesicht. „Ich mag Frauen, die wissen, was sie wollen.“

Ich beschloss, sein aufgeblasenes männliches Ego ausnahmsweise einmal nicht zurechtzuweisen, und sammelte meine Siebensachen ein.

„Baby?“

Bei jedem anderen Mann würde mich dieser Ausdruck maßlos ärgern - wahrscheinlich so sehr, dass ich ihn nachdrücklich daraufhinweisen würde, dass ich weder ein Säugling war noch als solcher behandelt werden wollte. Aber die Art und Weise, wie Raphael dieses Wort aussprach, entfachte tief in mir ein regelrechtes Feuer. „Was ist, Bob?“

Er rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf seine Hand. „Wenn du bei Dante bist, dann denk an diesen Abschiedskuss.“

Mein Blick bewies ihm, wie sehr ich ihn begehrte.

„Als ob ich den vergessen könnte!“

Nach dem bewölkten gestrigen Abend zeigte sich der Himmel am nächsten Morgen strahlend blau, aber der Wind, der die Blätter über die Erde wirbelte, war immer noch schneidend kalt. In den Abfalleimern bei den Imbissständen zankten sich Vögel um die Essensreste und flogen unter lautstarken Protestrufen davon, als ich es wagte, mir meinen Weg zwischen ihnen hindurch zu bahnen. Am Kirlian-Aurafotostand hing immer noch der beißende Gestank nach verbranntem Zelttuch und Holz schwer in der Luft, aber ich sah erleichtert, dass jemand neue Holzbretter an das verkohlte, schwärzliche Gerippe der Bude genagelt hatte. Offensichtlich waren Raphael und seine Leute nicht untätig gewesen, während ich die letzten Stunden des Marktes verschlafen hatte. Auch das Hauptzelt war wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt worden, selbst wenn das Zelttuch immer noch einige Risse aufwies sowie einige aufgesprühte Wörter, die wohl besser unübersetzt blieben. Ich warf einen Blick nach rechts auf die Zeltstadt, nachdem ich den Markt hinter mir gelassen hatte, und wäre angesichts dessen, was ich dort sah, fast auf die Nase gefallen.

„Eine Bevölkerungsexplosion!“ Auf der Hälfte der Wiese, auf der die Zelte standen, tummelten sich inzwischen Menschen, Zelte, Fahrzeuge, Tische und Stühle, und über all dem lag zu dieser frühen Morgenstunde eine seltsame Ruhe. Ich winkte einem Mann zu, der in eine Decke gewickelt im Schneidersitz dasaß und mit verkaterter Miene für einen überaus wachsamen schwarzen Hund Hundefutter in eine Schüssel schüttete. Dann verließ ich das Lager in Richtung Hotel.

Eine Stunde später hatte ich den Duft nach Raphael und unseren nächtlichen Aktivitäten abgewaschen und Jeans und einen dicken Pullover angezogen.

Roxy musterte mich, während ich der Kellnerin zulächelte, ihr pantomimisch meinen Wunsch nach Kaffee mitteilte und mich dann an einem Tisch am Fenster niederließ.

„Meine Güte, ich dachte schon, du lässt dich hier überhaupt nicht mehr blicken“, sagte Roxy mit säuerlicher Miene. „Ich weiß, ich hab dir gesagt, du sollst dich amüsieren, aber ich hatte nicht erwartet, dass du dich gleich so lange amüsierst. Es überrascht mich, dass du immer noch laufen kannst.“

Ich wartete, bis ich mein Frühstück bestellt und ein paar Schlucke des lebensrettenden Kaffees geschlürft hatte, bevor ich ihr antwortete.

„Weißt du was - ich freu mich schon darauf, wenn du irgendwann den Richtigen gefunden hast und ich mich dann zur Abwechslung mal über dich lustig machen kann.“

„Du grinst nur!“, warf sie mir vor und eine dicke Falte zerfurchte ihre Stirn.

„Für diese Bemerkung hättest du mir eigentlich den Kopf abreißen müssen, aber das hast du nicht, und jetzt grinst du auch noch. Oh Mann, erzähl mir bloß nicht, dass du dich in mehr verguckt hast als das ansehnliche Paket, das sich da zwischen seinen Beinen befindet.“

Ich nippte an meinem Kaffee und genoss die Aussicht auf die Berge und Wälder in der Ferne. „Ist es nicht einfach wunderschön hier? Mir gefällt die Gegend unglaublich gut!“

„Verdammt, es ist passiert, oder etwa nicht? Du hast dich in ihn verliebt!“

„Zu dieser Jahreszeit ist es vielleicht ein bisschen frisch, aber manchmal ist frisch auch gut. Ich mag den Herbstgeruch in der Luft.“

„Joy, du Idiotin, weißt du denn nicht, dass du für ihn nichts als ein kleines Abenteuer bist? Urlaubsromanzen halten nie!“

„Und die Leute hier sind wahnsinnig nett. Findest du die Leute nicht auch nett? Also, ich finde die Leute richtig nett.“

„Sobald das Festival vorbei ist, macht er sich mit allen anderen zusammen auf und davon nach Italien, und du fliegst nach Hause. Hast du überhaupt schon einen einzigen Gedanken an die Zukunft verschwendet?“

„Ich hatte befürchtet, dass die Verständigung ein Problem sein würde, aber das stimmt gar nicht. Alle hier sprechen Deutsch oder Französisch.“

„Du weißt doch überhaupt nichts von ihm. Du kannst dich nicht jemandem an den Hals werfen, von dem du nichts weißt! Wie kommst du bloß auf die Idee, es sei etwas Ernstes, wenn der Mann Geheimnisse vor dir hat? Stört es dich denn überhaupt nicht, dass du ihn eigentlich gar nicht richtig kennst?“

„Die Gegend ist auch so romantisch. Denk nur an die jahrhundertelange Geschichte, die uns umgibt.“

Roxy warf die Hände in die Luft, zum Zeichen dafür, dass sie sich geschlagen gab. „Ich geb's auf. Mach du ruhig so weiter, auch wenn du auf dem direkten Weg ins Heartbreak Hotel bist. Ich werde dann später einfach die Überreste deines gebrochenen Herzens aufsammeln, nachdem Raphael darübermarschiert ist. Ich werde kein einziges Wort mehr darüber verlieren, dass du den größten Fehler deines Lebens machst.“

„Danke schön. Das ist lieb von dir.“ „Aber ...“

Ich stöhnte, schnappte mir ein Brötchen aus dem Brotkorb und griff nach Butter und Marmelade.

„. . wenn ich noch irgendwas zu dir sagen sollte, dann würde ich dich wahrscheinlich darauf hinweisen, dass du zwar mehr Erfahrung mit körperlichen Beziehungen hast als ich, aber dafür gleichzeitig immer den schlechteren Geschmack in Bezug auf Männer hattest.“

„Mmmf mmf mmmf äh ha nnih öen.“

„Was?“

Ich schluckte den Bissen von meinem Brötchen herunter. „La, la, la, ich kann dich nicht hören.“

„Und ob du das kannst, du bist einfach nur zu dickköpfig, um zuzugeben, dass ich recht habe. Ihr zwei verdient einander. Hey! Ist dir eigentlich klar, dass ihr eben den fünften Schritt der Vereinigung abgeschlossen habt?“

„Den fünften?“ Ich dachte darüber nach. Roxy hatte recht, wenn der dritte Schritt unser leidenschaftlicher Kuss war, dann hätte der vierte darin bestanden, dass Raphael mir sein Geheimnis anvertraute, nur ...

„Er hat mir sein Geheimnis nicht erzählt“, widersprach ich. „Das heißt, der vierte Schritt fehlt, auch wenn wir den fünften Schritt vollzogen haben. Mehrmals. Mit größtem Vergnügen.“

„Er hat dir gesagt, dass er ein Geheimnis hat. Das ist fast dasselbe, wie wenn er dir sagt, was es ist.“

„Überhaupt nicht!“

„Aber sicher! Vertrau mir, das zählt als vierter Schritt.“

„Völlig egal, diese Diskussion ist sowieso total überflüssig, da Raphael kein Vampir ist.“

„Genau darauf will ich hinaus! Du solltest dir mal ein paar Gedanken über diese Beziehung machen, bevor du dein ganzes Leben für ihn wegwirfst.“

Und so ging es weiter. Leider hielt sich Roxy nicht an ihr gerade gegebenes Versprechen und nutzte jede Gelegenheit, um auf die grenzenlose Dummheit hinzuweisen, sich in einen Mann zu verlieben, über den ich rein gar nichts wusste. Als ich sie daran erinnerte, dass sie nicht das Geringste dagegen einzuwenden gehabt hatte, mich mit ihm zu verkuppeln, als sie noch dachte, er sei ein seelenloses, blutsaugendes Monstrum, winkte sie einfach nur ab, mit der Begründung, dass Vampire zumindest niemals mit einer anderen Frau durchbrennen würden und ihre Geliebte schwanger und ohne einen einzigen Cent in der Tasche in einem fremden Land zurücklassen würden.

Ich musste zugeben, das war ein Argument, aber auch damit gelang es ihr nicht im Mindesten, die Stärke meiner aufkeimenden Gefühle zu mindern. Sie waren möglicherweise noch nicht felsenfest, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass Raphael und ich die ersten Schritte auf einem Weg gegangen waren, der zu etwas weitaus Ernsthafterem als einem bloßen Urlaubsflirt hinführte. Und ob es klug war, mich in einen Mann zu verlieben, über den ich so gut wie gar nichts wusste? Tja, ich unterdrückte die nörgelnde, leise Stimme der Sorge, indem ich mir ins Gedächtnis rief, dass ich alles Wichtige, alles, was an Raphael wirklich zählte, bereits kannte - seinen Charakter, seine Moralvorstellungen und die Tatsache, dass er kein Untoter war.

Roxy und ich besichtigten das Museum, trieben uns ein Weilchen in zwei nahe gelegenen Städten herum und kehrten schließlich für ein Mittagsschläfchen ins Hotel zurück.

„Der Markt hat ganz schön lange auf und die Tatsache, dass du unbedingt darauf bestehst, Touristin zu spielen, ist echt Gift für meinen Schönheitsschlaf“, jammerte Roxy, als ich sie anderthalb Stunden später weckte.

„Du musst ja auch schließlich nicht jede Nacht bis zwei Uhr dableiben. Was haben Christian und du eigentlich noch die ganze Zeit lang angestellt?“

Sie stöhnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Er ist so um eins gegangen. Ich hab mich dann noch ein bisschen mit einer Gruppe Portugiesen rumgetrieben. Wusstest du, dass es portugiesische Gruftis gibt? Es gibt sie jedenfalls. Und sie sind irgendwie niedlich. Keiner von ihnen spricht Englisch, aber wir hatten richtig Spaß beim Tanzen. Ich glaube, wir sollten vielleicht noch einen Abstecher nach Portugal machen, bevor wir nach Hause fahren.“

Ich sagte nichts, sondern blickte nur aus dem winzigen Fenster auf die Dächer der nahe gelegenen Häuser.

„Joyful? Ich weiß, du fängst bestimmt gleich wieder mit ,la, la, la’ an, wenn ich dieses Thema anschneide, aber hast du Raphael eigentlich mal gefragt, was er nach diesem Wochenende vorhat?“

Ich seufzte und drehte mich zu ihr um. „Nein. Dafür ist es noch zu früh. Wir sind doch gerade erst zusammengekommen. Da kann ich ihn doch noch nicht fragen, ob wir uns bemühen sollten zusammenzubleiben oder ob er keinen Platz für mich in seinem Leben hat.“

„Er ist mir vollkommen wurscht, aber was ist mit dir?“, fragte Roxy. Sie strich über ihre Daunendecke. „Hast du Platz in deinem Leben für ihn? Würdest du für ihn zu Hause alles aufgeben? Kannst du dir vorstellen, mit ihm und dem Markt durch die Weltgeschichte zu reisen, nur um bei ihm zu sein?“

Ich machte mich auf den Weg zur Tür. „Warum musst du immer so schwierige Fragen stellen?“

„Einer muss es ja tun. Joy, der Markt wird in vier Tagen abreisen. Wenn das hier so ernsthaft ist, wie du glaubst, solltet ihr euch dann nicht mal über die Zukunft unterhalten, die nach den paar Tagen kommt, in denen ihr euch gegenseitig die Klamotten vom Leib reißt?“

Ich blieb einen Augenblick lang an der Tür stehen; meine Hand strich über das kühle, glatte Holz.

„Wenn du wissen willst, ob ich schon darüber nachgedacht habe, was es bedeuten würde, alles hinter mir zu lassen, dann lautet die Antwort Ja, das habe ich. Wenn du wissen willst, ob ich das durchziehen werde, tja, dann hängt die Antwort von Raphael ab.

Und wenn du jetzt damit fertig bist, mich in die Mangel zu nehmen, dann sehen wir uns gleich unten in der Schänke. Besagter Gentleman sagte, er würde kurz vorbeikommen, bevor er sich wieder um die Security kümmern muss.“

„Du bist doch nicht dumm, Joy“, rief sie mir nach, als ich die Tür schloss, „wenn du glaubst, dass er wirklich anders ist, und wenn er tatsächlich derjenige ist, auf den du gewartet hast, dann soll er es dir beweisen!“

Ein anderer Gast, der am Fuß der Treppe stand und zu mir hochschaute, bewahrte mich davor, Roxy eine Antwort zuzubrüllen. Ich lächelte, murmelte etwas in meinem besten Deutsch und hüpfte die Stufen zur Schänke hinunter, wo Raphael auf mich wartete, wie ich hoffte. Das tat er auch, allerdings saß er an der Wand hinter drei zusammengeschobenen Tischen und war umringt von sieben Angestellten des Marktes, zum größten Teil Männer, die die ganze Schwerstarbeit erledigten. Mitten auf dem Tisch lag ein großes Blatt Papier und Raphael zeichnete darauf Gebiete ein, die er für Gefahrenzonen hielt, wie ich annahm. Er hatte mir irgendwann erzählt, dass die Gegebenheiten des Geländes einen veränderten Aufbau des Marktes erforderlich gemacht hatten. Also vermutete ich, dass er ein strategisches Treffen einberufen hatte, um alle darüber zu informieren, wie sie am besten mit den Menschenmassen umgehen sollten, die im Verlauf der nächsten Tage erwartet wurden.

Arielle saß den Männern gegenüber und vor ihr stand ein bislang unberührtes Glas Bier. Ich warf Raphael eine Kusshand zu, als er hochsah und mir zulächelte, und setzte mich dann zu Arielle.

„Guten Tag, Joy“, sagte sie in ihrem bedächtigen Englisch.

Ich rutschte auf die gegenüberhegende Seite der Nische und beugte mich über den Tisch, um ihr die Hand zu tätscheln. „Hi, Arielle, was ist los? Du siehst aus, als ob du geweint hättest. Hast du dich über irgendetwas aufgeregt? Ist etwas passiert?“

Sie warf mir ein klägliches Lächeln zu. „Ich sehe so aus, als ob ich geweint hätte, weil ich geweint habe. Es ist etwas passiert, aber ich habe mich nicht aufgeregt.“

Ich hob beide Augenbrauen. „Ach nein?“

Sie blickte nach unten auf ihre Hände. „Vielleicht ein kleines bisschen.“

Ich fühlte mit ihr und war davon überzeugt, dass ihre Schwester sie fertiggemacht hatte wegen ihrer Entscheidung, bei ihrem Freund zu bleiben.

Ich warf einen Blick in den Raum, um zu sehen, ob Tanya vielleicht in irgendeiner Ecke lauerte. Es fing schon an zu dämmern, langsam übernahm die Nacht die Herrschaft über den Himmel, und es strömten jede Menge Leute in die Schänke, aber zum Glück war Tanya nicht zu sehen.

Ich nahm an, dass angesichts der Horden in der Zeltstadt wohl alle Schänken in der Stadt bis zum Platzen voll waren. Eine überfüllte Kneipe war jedoch nicht der richtige Platz, um sein Herz zu erleichtern, was Arielle jetzt offensichtlich dringend nötig hatte.

„Hör mal, wenn du dich so richtig ausheulen möchtest, kannst du gerne mein Zimmer benutzen. Es ist nicht gerade toll, aber da hast du wenigstens deine Privatsphäre.“

„Nein, ich werde nicht mehr weinen“, sagte sie entschieden und putzte sich trotzig die Nase. „Paal sagte, es ist nicht nötig zu weinen, weil alles gut werden wird.“ Sie zog noch ein letztes Mal die Nase hoch und blickte bewundernd zu einem vorzeitig kahl werdenden Wikinger hinüber, der an Raphaels Tisch saß. Paal nickte ihr kurz zu und konzentrierte seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Befehle, die Raphael in barschem Ton erteilte. „Es ist Tanya, weißt du? Dominic hatte einen Streit mit ihr letzte Nacht, einen großen Streit. Vieles davon war wegen dir, aber als sie fertig waren, sagte Dominic, dass Tanya nicht mehr länger zu ihm passe und sie gehen müsse, weil sie letzte Nacht sehr viel Ärger gemacht hat.“

„Ärger? Du meinst außer der Szene, als ich die Runen gedeutet habe?“

Arielle nickte. „Ja. Dominic war sehr wütend auf sie und Milos sagte, sie ist eine responsabilité für den Markt und dass sie gehen muss.“

„Responsabilité? Oh, du meinst, sie sei eine Belastung? Weil sie wütend darüber ist, wie Dominic sie behandelt hat? Ich muss zugeben, auch wenn ich für Tanya nicht gerade viel übrig habe, so stimme ich ihr in diesem Punkt hundertprozentig zu. Dominic ist echt das klassische Beispiel für einen Westentaschencasanova, der mit seinem Ego mal so richtig auf die Nase fallen sollte.“

„Nein, es ist nicht wegen ihrer Affäre, die so traurig zu Ende gegangen ist, sondern Milos ist wegen der anderen Sache so wütend.“

Ich lehnte mich in der hohen Nische zurück. „Moment mal, ich kann dir da nicht mehr folgen. Was hat Milos denn mit der Sache zwischen Dominic und Tanya zu tun?“

„Milos besitzt den Markt zusammen mit Dominic, ja?“

Ich nickte.

„Dominic ist für die Kunden der ... mmm ... Direktor?“

„Direktor? Das könnte man vielleicht bei einem Zirkus sagen, aber ich glaube, ich weiß, was du meinst.

Er zieht für die Besucher eine wilde Show ab, während Milos so was wie der stille Teilhaber ist?“

„Nein, er ist nicht still, er spricht viele Sprachen sehr gut, besser als ich. Aber er ist der Geschäftsmann. Er findet die Bands und macht alle Abkommen, wo wir hingehen. Er ist der, der uns bezahlt.“

„Ah, dann ist er der Geldsack. Verstehe. Und was hat Tanya denn angestellt, das Milos ihr dermaßen übel nimmt?“

„Sie hat gedroht, sich mit Informationen über Verstöße gegen die Lizenz, die dem Markt erteilt wurde, an die örtliche Polizei zu wenden“, antwortete Raphael, der in dem Moment auf den Sitz neben mir glitt.

Ich war einen Augenblick lang durch den warmen Druck seines Beins gegen meines abgelenkt. Raphael war ein großer, kräftiger Mann, doch selbst wenn man dies berücksichtigte, saß er nicht einfach bloß da, sondern er dominierte grundsätzlich jede Umgebung, in der er sich befand, und ließ selbst Räume, die zuvor vollkommen ausreichend erschienen, plötzlich beengt wirken. Aber wollte ich mich darüber beschweren, dass er unsere Seite der Sitzecke praktisch allein einnahm und mich an den Rand quetschte? Sicher nicht. Ich atmete einfach nur den sauberen Duft ein, den er immer ausströmte, und nahm mir vor, Aktien von der Firma zu kaufen, die seine Seife produzierte.

„Sie hat außerdem damit gedroht, den Zeitungen die Wahrheit über Dominic zu verraten, wenn er sein Versprechen nicht hielt und sie nicht zur Partnerin in seinem Unternehmen machte. Das sagte sie, nachdem sie ihn beschuldigt hatte, mit dir, Roxy sowie mit schätzungsweise der Hälfte der weiblichen Bevölkerung Osteuropas zu schlafen“, berichtete Raphael in gedehntem Tonfall und machte dem Kellner ein Zeichen.

„Wahrheit? Was denn für eine Wahrheit? Die Wahrheit, dass er nicht wirklich ein Vampir ist? Das taugt doch wohl nur bedingt für eine Erpressung“, wandte ich ein.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass sie das meinte, aber da niemand so nett war, mich über die Wahrheit aufzuklären, kann ich nur darüber spekulieren, was sie vorhatte.“

Ich ließ mir das Ganze durch den Kopf gehen, während ich Teresa beobachtete, eine der Töchter des Wirts, die auch hinter der Theke arbeitete. Sie trippelte gerade auf Raphael zu und verschlang ihn praktisch mit den Augen, obwohl ich an seiner Seite klebte.

„Raphael, wie nett, dich wiederzusehen“, gurrte sie. Arielle und mich ignorierte sie ganz unverfroren.

„Hast du später noch Zeit? Es gibt ein paar Dinge, die ich dir gerne zeigen möchte.“ Sie leckte sich über die Lippen. Ich legte eine besitzergreifende Hand auf seinen Oberschenkel und warf ihr einen bitterbösen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, um deutlich zu machen, dass ich es ganz und gar nicht schätzte, wenn jemand in meinem Revier wilderte. Sie warf ihm einen Blick zu, mit dem man Gardinen hätte bügeln können. „Ein paar Sehenswürdigkeiten in der Stadt natürlich.“

Aber sicher doch. Bitte alle mal die Hände heben, die ihr abnahmen, dass sie die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten im Sinn hatte.

„Vielen Dank, aber ich habe noch zu tun“, sagte Raphael freundlich.

Teresa schmollte, als Raphael für uns bestellte, dabei seine Finger in meinem Haar vergrub und meinen Nacken streichelte. „Und du dachtest, ich wäre eifersüchtig“, sagte er leise.

„Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich dir BESETZT auf die Stirn schreibe, oder?“, erkundigte ich mich, wobei seine Berührung einen Wonneschauer über meinen Rücken rieseln ließ.

Er grinste. „Nur wenn du im Gegenzug versprichst, lange Gewänder und einen Schleier zu tragen.“

Ich ließ meine Hand an seinem Schenkel hochgleiten, um ihn wissen zu lassen, welche Wirkung er auf mich hatte. Als ich mich wieder Arielle zuwandte, lächelte sie uns mit einem eindeutigen Funkeln in den Augen entzückt an.

„Wage es ja nicht, laut auszusprechen, was du gerade sagen wolltest“, warnte ich sie. Dann musste ich über ihr enttäuschtes Gesicht lachen. „Du bist genauso schlimm wie Roxy.“

Sie lächelte wieder. „Es ist nur, dass ich so glücklich bin, euch glücklich zu sehen. Euch beide. Es ist gut, jemanden zu finden, zu dem man passt, ja?“

„Mmm.“ Ich drehte mich wieder zu Raphael um.

„Und was ist dann passiert, nachdem Tanya Dominic gedroht hat? Hat Milos ihr gesagt, sie soll ihren Kram zusammenpacken und abhauen?“

„Mehr oder weniger.“ Teresa brachte unser Bier und Raphael gab ihr ein paar Münzen. Mein Glas schwappte über, als sie es vor mich hinstellte, aber ich sagte nichts, sondern warf ihr nur einen weiteren finsteren Blick zu.

„Dir muss man aber auch jedes Wort aus der Nase ziehen“, beschwerte ich mich und wischte das verschüttete Bier auf. „Übrigens, hast du vor, dein Bier zu trinken, oder willst du es in einen der Blumentöpfe gießen, wenn du denkst, dass gerade keiner hinsieht?“

Er wirkte einen Augenblick lang verwirrt, bevor sich seine Bernsteinaugen verdunkelten.

„Am ersten Abend“, erklärte ich, „habe ich gesehen, wie du eine Pflanze mit deinem Bier gegossen hast.

Das war einer der Gründe, warum Roxy annahm, du wärst ein ...“, ich blickte Arielle mit einem strahlenden Lächeln an, „das ist einer der Gründe, warum wir dich für jemand anders hielten.“

„Ich habe vor, dieses hier zu trinken“, sagte er mit undurchdringlichem Blick.

„Das ist ein helles Bier. Das andere war dunkel und mir zu stark.“

„Zu stark?“

„Ich trinke nicht gerne so viel, bevor der Markt öffnet. Aber an diesem Abend hörte der Barkeeper nicht auf, mir stolz von der Stärke seines hiesigen Gebräus zu erzählen, und ich wollte seine Gefühle nicht verletzen, indem ich es nicht trank.“

Ich drückte kurz seinen Schenkel, um ihm zu zeigen, wie sehr ich seine Rücksichtnahme auf andere zu schätzen wusste, und dann gleich noch mal, einfach weil ich seinen Schenkel gerne drückte. Ich wurde mit einer unruhigen Bewegung belohnt. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass meine Hand so nahe an Mr Happy eine vorhersehbare Wirkung erzielte. Ich widerstand der Versuchung, ihn weiter zu quälen, und zog meine Hand zurück.

„Es war sehr schlimm letzte Nacht“, unterbrach Arielle meine schmutzigen Gedanken. „Ich war auch dabei und man kann nur sagen, dass Tanya sehr wütend auf Dominic war, und als Milos ihr sagte, dass sie den Markt nach dem Festival verlassen müsse, hat sie geweint und ist zu unserem Wohnwagen zurückgegangen.“ Bei den letzten Worten blickte sie nach unten und Tränen sammelten sich in ihren hübschen blauen Augen. „Ich bin nicht zu ihr gegangen, wie ich es hätte tun sollen. Paal hatte verabredet... das heißt, ich wollte an diesem Abend bei Paal sein und ich bin erst sehr viel später zum Wohnwagen gegangen. Und jetzt ist sie weg!“

„Weg?“, fragte ich und blickte zwischen ihr und Raphael hin und her. „Sie hat den Markt jetzt schon verlassen?“

„Nein“, sagte Arielle, bevor Raphael antworten konnte. „Ihre Sachen sind immer noch im Wohnwagen, aber seit einigen Stunden hat niemand sie mehr gesehen.“

Ich blickte Raphael an.

„Ich vermute, sie hat sich irgendwohin verzogen, um ihre Wunden zu lecken“, beantwortete er meine stumme Frage. „Wenn sie bis heute Abend nicht zurückkommt, sollte Arielle zur Polizei gehen.“

Bei diesen Worten begann Arielles Unterlippe zu beben.

„Arielle soll zur Polizei gehen? Du bist doch der Kerl von der Security, meinst du nicht, du solltest das erledigen?“

Er schaute weg. „Nein. Es ist besser, wenn sie das macht.“

Besser für wen?, fragte ich mich. Warum war Raphael dermaßen zurückhaltend, wenn es darum ging, mit der Polizei zu reden? Es musste etwas mit seinem Geheimnis zu tun haben, da war ich mir sicher.

Die Vorstellung, dass er etwas Schlimmes angestellt hätte, etwas wirklich Schlimmes, war undenkbar; darum legte ich mir im Nu eine andere Erklärung zurecht. Vielleicht waren die Anschuldigungen gegen ihn falsch, vielleicht wurde er eines Verbrechens beschuldigt, das er gar nicht begangen hatte, wegen dem er aber vor der Polizei fliehen musste.

Das würde auch erklären, warum er sich in diesem kleinen Unternehmen versteckte, das nie lange an einem Ort blieb. Ein Schniefen aus Arielles Richtung lenkte mich von diesem Gedankengang ab und ich wandte mich wieder ihrem Problem zu.

„Du glaubst doch nicht ... „ Ich zögerte, in ihrer Gegenwart davon zu reden, aber es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Tanya ohne ihre Sachen verschwunden war. Ich kniff so lange in Raphaels Bein, bis er mich ansah.

„Du glaubst doch nicht, dass ihr etwas zugestoßen ist, oder? Wegen dem Vorfall in Heidelberg, meine ich?“

Seine Augen funkelten, ein Zeichen dafür, dass er meine unausgesprochene Frage verstanden hatte.

„Unwahrscheinlich“, sagte er mit einem Blick auf Arielle. Er drückte meine Hand. Sein Bein, auf dem unsere Hände lagen, war angespannt. Offensichtlich machte er sich wegen Tanya mehr Sorgen, als er zugeben wollte.

„Heidelberg?“, fragte sie. Ihre Augen weiteten sich angsterfüllt, als sie begriff, worauf ich hinauswollte.

„Du meinst, Tanya könnte ... genau wie diese arme Frau?“

„Nein, natürlich nicht. Ich bin sicher, dass sie schmollend in irgendeiner Ecke hockt“, versicherte ich ihr und tätschelte noch einmal ihre Hand. „Ich würde glatt darauf wetten, dass sie sich bei irgendjemand in der Zeltstadt verkrochen hat. Dort müssen mittlerweile wohl über dreihundert Leute zusammengekommen sein. Sie wird bestimmt heute Abend auftauchen, du wirst schon sehen. Der Mord in Heidelberg war ein Einzelfall, der mit dem Markt überhaupt nichts zu tun hat. Tut mir leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe.“

Ich sah Raphael an und hoffte auf seine Unterstützung, aber überraschenderweise sagte er gar nichts.

„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Arielle mit einem weiteren Blick zu ihrem zur Glatze neigenden Wikinger, der mit einer Gruppe von Arbeitern vom Gothic-Markt zusammensaß und lachte.

Roxy kam in die Schänke, winkte uns zu und rief dann etwas zurück durch die Tür nach draußen. Raphael erstarrte, als hinter ihr Christian zum Vorschein kam.

„Da sind sie ja. Haben wir noch Zeit für ein Bier? Hi, Raphael. Du siehst überraschend ausgeruht aus, angesichts von Joyfuls Sexbesessenheit.“

Als Roxys Blick auf Arielles Gesicht fiel, hörte sie sofort auf, sich über uns lustig zu machen. Sie setzte sich neben sie und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Arielle, was ist los? Du siehst aus, als ob du geweint hättest.“

„Du brauchst uns gar nicht so anzuschauen, wir haben ihr nichts getan“, sagte ich, bevor ich mich umwandte und Christian begrüßte. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ans Ende des Tischs, wobei er Raphael kurz zunickte.

Raphael erwiderte das Nicken. Mit einer geschmeidigen Mr-Cool-Bewegung, wie sie von Männern auf der ganzen Welt wohl schon seit Ewigkeiten praktiziert wird, ließ er seinen Arm auf meine Schultern sinken und zog mich noch näher an sich heran.

Angesichts dieser unverhohlenen Zurschaustellung seiner Besitzansprüche wanderten Christians Augenbrauen in die Höhe.

„Subtilität ist seine Stärke“, erklärte ich ihm.

„Möchtest du vielleicht, dass ich jetzt gehe und dir deinen Schleier hole?“, knurrte Raphael. Ich kniff ihn ins Bein. „Oh mein Gott!“, sagte Roxy, die inzwischen die ganze Geschichte von Tanya gehört hatte. „Sie feuern Tanya? Wow! Schlechtes Karma. Ich schätze, das können wir auch noch auf die Liste von Joys Katastrophen setzen.“

„Auf keinen Fall!“

„Aber sicher. Das ist genauso wie mit dem Haus von diesem armen Paar, das du ins Meer gespült hast.“

„Ich habe ihr Haus nicht ins Meer gespült - das war der Sturm!“

„Ist doch dasselbe.“

Ich biss mir auf die Zunge, da ich keine Lust hatte, mich vor allen anderen mit ihr zu streiten. Roxy versicherte Arielle, dass Tanya sicher bald wieder auftauchen würde. „Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht und so“, sagte sie weise. Zum Glück verstand Arielle die Anspielung nicht.

Eine halbe Stunde später machten wir uns auf den Weg in unterschiedliche Richtungen: Roxy, Christian und ich zu seinem Schloss, um uns das Verlies anzuschauen und eine Schlossbesichtigung mit allen Schikanen zu erleben, und die Leute vom Gothic-Markt gingen zurück zur Wiese, um sich auf das Publikum vorzubereiten. Raphael hielt mir die Tür auf, als wir das Hotel verließen, und ging noch ein Stück neben mir her. Er begleitete mich bis zum Parkplatz, wobei seine Hand die ganze Zeit über besitzergreifend auf meinem Rücken lag.

„Du könntest ihr doch eine Erkennungsmarke ans Ohr knipsen oder besser noch ein Halsband mit GPS umlegen“, schlug Christian vor, der hinter uns ging.

„Dann müsstest du dich nicht ständig fragen, wo sie sich gerade aufhält.“

Der Druck von Raphaels Hand auf meinem Rücken verstärkte sich.

„Oder bei wem sie ist“, entgegnete er barsch.

„Jungs, wenn ihr unbedingt wieder euren Pinkelwettstreit austragen müsst, dann bitte in Windrichtung“, sagte ich in der Hoffnung, den mahnenden Tonfall einer Mutter zu treffen, und warf Raphael einen strengen Blick zu.

Er hielt meinem Blick stand und zog mich dann abrupt an sich, um mir einen extrem harten, herrischen Kuss zu geben. Sein Mund war heiß und fordernd, während seine Zunge meiner gegenüber ziemlich aufdringlich wurde, sie herumkommandierte und überhaupt so tat, als ob sie dort zu Hause wäre. Ich überlegte kurz, ob ich Raphael und seine Zunge fragen sollte, an welcher Haltestelle sie wohl aussteigen wollten, musste mir selbst gegenüber dann allerdings beschämt eingestehen, dass ich es liebte, wenn sein Körper diese Machonummer mit mir abzog. Ich seufzte in seinen Mund und gestattete ihm, nach Herzenslust zu rauben und zu plündern.

„Wenn er dich zum Abschied immer so küsst, dann muss man sich schon fragen, wie er ...“

„Das reicht jetzt!“ Ich entzog mich Raphael und starrte Roxy wütend an, die auf dem Beifahrersitz von Christians Wagen Platz genommen hatte. Sie grinste zurück.

„Jetzt verstehe ich, was du meintest, als du gesagt hast, dass Subtilität eine seiner Stärken wäre“, erklärte Christian ziemlich kurz angebunden. „Wenn ihr dann fertig seid ...“ Er hielt mir die hintere Wagentür auf.

Raphael warf mir einen Blick zu, der mich ermahnte, mich zu benehmen. Ich antwortete mit einem Blick, der ihn darüber informierte, dass ich mich immer und überall benahm und dass er sich lieber keine Ausrede einfallen lassen sollte, um ins Hotel zurückzukehren und noch ein Bier zu trinken, jedenfalls nicht, solange dort dieses mannstolle Weibsstück Teresa lauerte. Ansonsten würde ihm am Ende noch ein gewisser Teil seiner Anatomie mithilfe eines stumpfen Buttermessers und zweier rostiger Löffel abgetrennt werden.

Er verdrehte die Augen.

Der Kerker im Drahaner Schloss war nicht so, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte mir vorgestellt, dass alte Verliese grundsätzlich düster und feucht sein müssten, angefüllt mit der Erinnerung an Leiden und Grauen. In meiner Fantasie lagen zerbrochene Folterinstrumente vergessen in einer Ecke und rosteten vor sich hin und die Luft war vom Rascheln der Ratten erfüllt, die sich in dunkle Ecken flüchteten.

Christian war, wie ich gerade erst zu begreifen begann, ein Mann voller Überraschungen, und sein Kerker sah dementsprechend aus. Die Stufen, die in die untersten Ebenen des Schlosses führten, waren aus uraltem Gestein, wurden aber vom elektrischen Licht an den Wänden beleuchtet. Als wir das Ende der Treppe erreicht hatten, war ich auf Schmutz und Ratten gefasst.

Christian drückte auf einen Schalter. Ich muss ziemlich verblüfft dreingeschaut haben, als eine ganze Reihe von Lampen, die in die niedrige Steindecke eingelassen waren, mit einem Summen angingen und eine lange Reihe von Marmorstatuen erleuchteten, jede auf einem passenden Marmorsockel.

„Statuen?“, fragte Roxy. Sie drängte sich an mir vorbei, um das nächstgelegene Standbild näher in Augenschein zu nehmen. „Du bewahrst in deinem Kerker Statuen auf?“

„Kannst du dir einen besseren Ort für sie vorstellen?“, fragte Christian. Er ging an ihr vorbei und schaltete einen Scheinwerfer an, der die Statue ausleuchtete, die sie gerade betrachtete.

„Sie sind wunderschön“, sagte ich. Sanft strich ich über das steinerne Bein einer nahezu unbekleideten Frau. Es waren wirklich beeindruckende Kunstwerke. Museumsqualität, nahm ich an. Die Gesichtszüge der Frau waren bis ins letzte exquisite Detail wiedergegeben, fast ebenso realistisch wie der Schwung im Stoff ihres Gewandes, das ihr über die Schulter glitt. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste die steinernen Falten mit den Fingern nachfahren, voll tiefer Bewunderung für die Begabung des Bildhauers.

„Wo sind denn die ganzen Folterinstrumente? Wo ist deine Streckbank?“, fragte Roxy, die die Reihe der Statuen entlangging. Aus jedem ihrer Worte sprach tiefe Enttäuschung.

„Dies hier ist Venus“, erklärte Christian mir, als er das Licht für die Figur anschaltete, vor der ich gerade stand. Seine Stimme war genauso sanft wie der polierte Stein unter meinen Fingern.

„Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen“, sagte ich.

Er stand neben mir, seine ruhigen Augen spiegelten seine Genugtuung wider, als er die Statue betrachtete. Die Frau stand gegen eine Säule gelehnt da, einen verführerischen Ausdruck auf dem Gesicht, und spielte mit den Falten des Stoffs, der sie teilweise bedeckte. „Ich habe hier ein oder zwei italienische Stücke, aber der Rest besteht aus Schutzheiligen der Tschechischen Republik.“

„Wo sind die Wände, die mit dem Blut Tausender Männer befleckt sind, die im Laufe der Jahrhunderte hier gefoltert wurden? Wo sind deine Skelette, die in Metallkäfigen von der Decke hängen? Ich war mir ganz sicher, dass hier Skelette sein würden!“ Roxys jammernde Stimme hallte durch den lang gestreckten Raum.

„Sie ist wunderschön, nicht wahr?“ Christian strich mit einem Finger über die halb nackte Wade der Frau und landete schließlich genau dort, wo meine Hand auf einem grazil gewölbten Fuß ruhte. Seine Finger berührten flüchtig die meinen, aber ich wusste, dass das keine zufällige Berührung war.

Ich zog meine Hand weg. „Ja, wirklich wunderschön.“

„Sie ist fünfhundert Jahre alt.“ Er legte den Kopf zur Seite und blickte mich an.

Im Scheinwerferlicht wirkten seine Augen schwarz und unergründlich. „Ich glaube, dass ihr beide etwas gemeinsam habt: die Zeitlosigkeit eurer Schönheit.“

„Wo sind deine rostigen Schwerter und Ketten und die neunschwänzige Katze? Ist das nicht die Grundausstattung eines Kerkers? Ich bin ganz sicher.“

„Christian ...“ Ich zögerte. Es fiel mir nicht leicht, ihn zu bitten, seine Annäherungsversuche endlich zu unterlassen. Ich fühlte mich auch so schon schlecht genug, ohne in seinem eigenen Haus gemein zu ihm zu sein, aber er musste wissen, dass es so nicht weitergehen konnte.

„Du hast gewählt“, sagte er ruhig. Sein Gesicht glich einer Maske, sein Blick war durchdringend, doch nicht zu deuten.

„Ja, das habe ich, und es tut mir schrecklich leid, wenn dich das in irgendeiner Weise verletzt, aber ich glaube, wenn du einsiehst, dass du in Wirklichkeit gar nicht an mir interessiert bist, sondern das alles im Grunde nur irgend so ein Machospiel ist, in dem du Raphael eins auswischen willst, dann wird dir klar werden, wie albern das alles ist.“

„Du glaubst nicht, dass du diejenige bist, die für mich bestimmt ist?“

„Ich weiß, dass ich es nicht bin“, sagte ich sanft und versuchte, etwas mehr Abstand zu ihm einzunehmen.

„Du irrst dich“, sagte er einfach. „Da du mir keinen Glauben schenken willst, werde ich es dir beweisen müssen.“

„Jetzt warte mal“, protestierte ich. Ich begann mir angesichts des Ausdrucks in seinen Augen langsam Sorgen zu machen. „Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu beweisen ...“

Zu meinen Füßen öffnete sich ein schwarzer Abgrund, an dessen Rand ich balancierte, von Hunger verzehrt, verbrannt vom heißen Atem einer Seelenqual, dessen Intensität mir die Luft aus den Lungen trieb. Erinnerungen an dunkle, endlose, einsame Nächte, eine nach der anderen, über Jahrhunderte hinweg, erfüllten meine Gedanken, während nicht enden wollende Verzweiflung meine Seele zerriss, bis nichts mehr übrig war als die Erinnerung an ein Leben außerhalb dieses Albtraums. Inmitten dieser Qual existierte eine winzige Flamme der Hoffnung.

Hoffnung auf die Rettung, die nur eine einzige Person bringen konnte, auf die Rückkehr des Lebens, auf ein Ende der ewig währenden Einsamkeit ... und das lang erhoffte Versprechen von Liebe.

Ich schreckte vor dem schwarzen Abgrund zurück, schreckte vor Christian zurück, bis mein Rücken auf die eisige Kälte von Marmor traf. Ich starrte ihn an, schüttelte den Kopf, während er mich beobachtete, unfähig, alles zu begreifen, was er in meinen Kopf projizierte.

„Nein!“, flüsterte ich. Ich klammerte mich an die Statue und begann, mich Schritt für Schritt dahinter zurückzuziehen. Mein einziges Ziel war, so viel Abstand wie möglich zwischen Christian und mich zu bringen. „Nicht du. Du kannst es nicht sein.“

Irgendwo hinter den Statuen erklang Roxys Stimme, aber ihre Worte erreichten mich nicht. Für mich existierten nur noch Christians wunderschöne Stimme und seine verzweifelten Augen. Er bewegte sich langsam auf mich zu und benutzte seine Stimme, um mich zu beruhigen. „Geliebte, lauf nicht vor mir davon. Ich werde dir kein Leid zufügen.“

„Nein“, entgegnete ich. Ich war weder dazu imstande, meine Augen von ihm abzuwenden, noch wollte ich den Beweisen vor mir Glauben schenken. Ich zog mich noch ein paar Schritte zurück. „Wie konntest du mir das antun? Ich dachte, du bist mein Freund. Wie konntest du das nur tun?“

Er machte einen Schritt auf mich zu, seine Hände mit den Handflächen nach oben gerichtet, wie um zu zeigen, dass er mir nichts antun wollte. „Es war nicht meine Absicht, dass du leidest, Geliebte. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass du mich gefunden hattest, und konnte nicht ahnen, dass du meine Gedanken mit solcher Leichtigkeit lesen konntest. Sobald ich dich sah und sobald ich merkte, dass du leiden musstest, habe ich meine Gedanken vor dir verborgen.“

„Nicht vollständig“, sagte ich. Ich rieb mir die Arme, zitternd vor Kälte, die mich bei der Erinnerung an seine vertraulichen Besuche überkam. Etwas Kaltes drückte gegen meinen Rücken, als ich weiter vor ihm zurückwich. Ich schlüpfte hinter die Statue. „Du hast mich ... berührt.“

Er kam einen Schritt näher. „Das ist mein Recht. Du bist meine Gefährtin.“

„Das ist keineswegs dein Recht“, widersprach ich ihm. Dabei klammerte ich mich Halt suchend an die Statue, an der ich mich vorbeischob. „Ich bin nicht deine Gefährtin. Ich liebe Raphael, nicht dich.

Nichts, was du sagst, wird an dieser Tatsache etwas ändern.“

Er tat meine Einwände mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und kam erneut einen Schritt näher. Ich ließ die Statue los und tastete hinter mir nach der nächsten. „Die Liebe, die du für ihn zu empfinden glaubst, ist eine Illusion“, sagte er. „Dein Verstand weigert sich, dein Schicksal zu akzeptieren, und erschafft auf diese Weise einen Fluchtweg für dich. Doch wenn wir den fünften Schritt der Vereinigung erst einmal vollzogen haben, wirst du deine wahren Gefühle erkennen.“

„Joy? Christian? Was macht ihr denn hier?“

„Du hast mich verraten. Ich habe Hilfe bei dir gesucht. Ich dachte, du wärst mein Freund, und dann hast du mich verraten.“

Die kalten, blicklosen Augen eines vor langer Zeit verstorbenen Heiligen spähten sorgenvoll auf mich herab, als ich mich hinter ihn flüchtete.

„He, Leute? Was ist denn los?“ Roxys Stimme wurde lauter, als sie sich uns näherte.

Da stürzte sich Christian mit einem Mal auf mich und umschloss mich in einer unnachgiebigen Umarmung, an deren Absichten kein Zweifel bestehen konnte.

„He, ihr beiden!“

„Tu das nicht!“, flehte ich Christian an. „Du irrst dich, ich weiß, dass du dich irrst. Das fühle ich mit jeder Faser meines Körpers. Wir sind nicht füreinander bestimmt. Irgendwie, irgendwo ist etwas schiefgegangen. Ich bin nicht die Frau, die du brauchst.“

„Joy?“ Roxy tauchte neben mir auf, aber Christian würdigte sie keines Blickes.

Ich hatte Angst davor, meine Augen auch nur eine Sekunde von ihm abzuwenden, und war mir sicher, dass seine Selbstbeherrschung ein jähes Ende finden würde, wenn ich es täte.

„Ich lebe seit fast neunhundert Jahren“, sagte er ruhig. Seine Arme umschlossen mich wie Stahlseile.

Ich hörte Roxy nach Luft schnappen, aber sie sagte nichts.

„Ich habe mitangesehen, wie sich zahllose Vampire dem Ungeheuer überantwortet haben, das in ihnen lebt, weil sie nicht länger darauf warten konnten, ihre Gefährtin zu finden. Noch nie hat einer der Dunklen die falsche Frau erwählt. Das ist unmöglich.“

„Nichts ist unmöglich“, flüsterte ich. Ich ließ es zu, dass seine Arme mein Gewicht trugen.

„,Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...' Shakespeare wusste das und ich weiß es auch. Ich wünschte, ich könnte deinen Schmerz lindern, aber die einfache Wahrheit ist, dass ich nicht deine Gefährtin sein kann. Ich liebe Raphael. Ich brauche Raphael. Ich will ihn und nur ihn. Er ist mein Gegenstück. Wenn du versuchst, etwas aus mir zu machen, was ich nicht bin, wirst du bloß uns beide zerstören. Willst du das, Christian? Willst du mich zerstören?“

Er schloss für einen Moment die Augen, aber da ich ihm so nahe war, fühlte ich die Welle aus Schmerz, die ihn überkam, obwohl er seine Gedanken und Gefühle vor mir verbarg. In diesem Augenblick begriff ich, dass er sich nichts vormachte; er glaubte aufrichtig, dass ich seine Auserwählte sei, die Frau, die ihn erlösen und seinem Leben einen Sinn geben konnte.

Und dieses Wissen verstärkte meine Angst ins Unendliche.

„Ich bin nicht sicher, was hier eigentlich los ist“, sagte Roxy. Sie schaute mit weit aufgerissenen Augen zwischen uns hin und her. „Aber was auch immer es ist, es wird mir langsam wirklich unheimlich, und Joy wirkt auch nicht gerade überglücklich, also sollten wir den Rest der Führung vielleicht besser überspringen, okay?“

„Ich werde dir nicht wehtun“, sagte Christian. Seine Stimme hüllte mich ein, glitt weich wie Samt über meine Haut. „Ich werde dir niemals wehtun, das schwöre ich.“

„Danke“, sagte ich aufrichtig. Allerdings hegte ich den hässlichen Verdacht, dass ich ihn in nicht allzu ferner Zukunft an dieses Versprechen würde erinnern müssen, falls ich ihn nicht davon überzeugen konnte, dass ich nicht seine Seelengefährtin war.

Seine Augen erforschten die meinen noch eine Sekunde lang, bevor er mich schließlich aus seinem eisernen Griff entließ. Ich begann wieder zu atmen, nachdem ich überrascht erkannte, dass ich die Luft angehalten hatte. Christian trat einen Schritt zurück und verbeugte sich knapp in Roxys Richtung. „Du bist jetzt im Besitz einer Wahrheit, die im Laufe der Jahrhunderte nur wenigen Menschen zuteil geworden ist. Ich hoffe, du wirst mein Vertrauen in deine Diskretion nicht enttäuschen.“

„Oh nein“, versicherte Roxy ihm. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen wachsam, als er ihr Kinn umfasste und ihr in die Augen sah.

„Ehrlich, Christian. Ich würde dein Geheimnis niemals weitererzählen.“

Er sah sie noch eine Weile an, dann ließ er ihr Kinn wieder los und wies mit einer eleganten Geste in Richtung der Treppe. „Da keine von euch wünscht, den Rest des Kerkers zu erforschen, können wir in die obere Etage zurückkehren und die Besichtigung fortsetzen.“

Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich von hier wegzukommen und mich in Raphaels Arme zu flüchten, aber die Erinnerung an Christians Qualen war noch stark. Also lächelte ich Roxy auf ihren fragenden Blick hin zaghaft zu und bemühte mich, das immer noch andauernde Gefühl abzuschütteln, in einem Albtraum gefangen zu sein.

Ich ging die Stufen hinauf, dem hellen Schein der Realität entgegen.

Dark one 01 - Blind Date mit einem Vampir-neu-ok-06.12.11
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